"Abschreckung war groß" "Abschreckung war groß": Auf der Suche nach der Wahrheit zum NVA-Knast in Schwedt

Halle (Saale) - Vor dem Militärgefängnis in Schwedt (Brandenburg) hatten zu DDR-Zeiten tausende Soldaten Angst. Arno Polzin, Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, hat sich intensiv mit dem Mythos Schwedt beschäftigt. Im Gespräch mit Thomas Purschke berichtet er, wie der Alltag der Gefangenen aussah und welchen Einfluss die Staatssicherheit dort hatte.
Herr Polzin, Sie haben tausende Stasi-Aktenseiten zum DDR-Militärknast Schwedt ausgewertet. Was haben Sie Neues herausgefunden?
Arno Polzin: Angesichts dessen, dass die relevanten Personal- und Gefangenenakten nicht zugänglich beziehungsweise nicht auffindbar und die Verwaltungsakten nur sehr rudimentär überliefert sind, richtete sich der Fokus des Projektes auf die Akten der Staatssicherheit. Dem folgend stand die Rolle der Stasi im Mittelpunkt, die - wie sich herausstellte - durchgängig offiziell und inoffiziell sowohl im Personal als auch unter den Insassen verankert war. Die Stasi führte gegen besonders auffällige Personen eigene Aktenvorgänge, die im Extremfall beim Personal zu Versetzungen oder Entlassungen, bei den Insassen zu erneuten Verurteilungen führten. Auch kann gegenüber bisherigen Erkenntnissen das Innenleben von Schwedt nun viel detaillierter beschrieben werden.
Wie viele Soldaten, Unteroffiziere und höhere Dienstgrade wurden von 1968 bis 1990 im Militär-Knast Schwedt eingesperrt?
Polzin: Mangels Statistiken oder Einlieferungslisten können auch jetzt noch nur Hochrechnungen angestellt werden. Demnach ergeben sich über 7 400 Personen als Militärstrafgefangene und Strafarrestanten. Mit den zusätzlich circa 2 500 Disziplinarbestraften lässt sich somit annähernd eine Gesamtanzahl von fast 10 000 Schwedt-Insassen abschätzen. Höhere beziehungsweise Offiziers-Dienstgrade waren nur in der Anfangszeit und nur sehr wenige betroffen. Die letzten Entlassungen erfolgten im April 1990.
Was waren die überwiegenden Delikte, die zur Inhaftierung führten?
Polzin: Das Spektrum reicht von eher zivilen Delikten wie Diebstahl, Körperverletzung oder Sittlichkeitsvergehen bis zu den in einem eigenen Kapitel im Strafgesetzbuch normierten Militärstraftaten: unerlaubte Entfernung, Fahnenflucht, Befehlsverweigerung, Beeinträchtigung der Gefechtsbereitschaft oder Verletzung von Dienstvorschriften. Typisch ist aber eine Vermischung.
Können Sie das näher ausführen?
Polzin: Die Schlägerei mit einem Vorgesetzten zum Beispiel kann als „bloße“ Körperverletzung oder eben als Militärstraftat „Angriff auf Vorgesetzte“ interpretiert werden. Oft wurde dies noch kombiniert mit den politisch interpretierten Sachverhalten von staatsfeindlicher Hetze oder Verleumdung. Klar ist, dass ohne die Wehrpflicht und die einengenden Bedingungen des Kasernenbetriebs zahlreiche der Taten gar nicht passiert wären, oder die Delikte auch mit einer zivilen Strafe zu ahnden gewesen wären. Die genaue Verteilung von Delikten oder relevanten Paragrafen lässt sich wegen fehlender Statistiken nicht genau beziffern.
Viele NVA-Soldaten hatten Furcht davor, in Schwedt zu landen. Was ist dran am Mythos Schwedt, an dem brutalem Drill?
Polzin: Die angesprochenen Extremvermutungen können nach dem Aktenstudium nicht bestätigt werden. Doch das Tagesregime war eine Kombination von schwerer körperlicher Schichtarbeit mit Weckzeiten morgens um 4 Uhr, anhaltender militärischer Ausbildung - vor allem das Armee-übliche Programm Exerzieren, Schutzausbildung, Sturmbahn - und ideologischer Politschulung. Militärische Ausbildung und Politschulung erfolgten mit Benotung in einem Wettbewerb gegeneinander.
Was ist mit der vermeintlich lebensgefährlichen Arbeit im Steinbruch oder in der Quecksilberproduktion im Petrolchemischen Kombinat (PCK)?
Polzin: Entgegen der Vermutungen gab es keine Arbeit in der Produktion des benachbarten Chemiewerks PCK, sehr wohl aber unter Normvorgaben in beziehungsweise für unterschiedliche Betriebe. Die Furcht vor Schwedt resultierte aber auch daraus, dass die dort verbrachte Zeit nicht auf die Wehrdienstzeit angerechnet wurde, womit sich der Wehrdienst entsprechend verlängerte, was von vielen als doppelte Bestrafung empfunden wurde.
Stimmt es, dass die Weigerung von Grenzsoldaten, auf Flüchtlinge zu schießen, mit Haft in Schwedt bestraft wurde?
Polzin: Ja, wobei aber auch hier wieder auf fehlende Statistiken zu verweisen ist. Die Drohung, erfolgreiche „Republikfluchten“ würden penibel daraufhin untersucht, ob sie hätten verhindert werden können, wurde gegenüber den Angehörigen der Grenztruppen permanent aufrechterhalten. Auch wenn einzelne Juristen und Historiker noch bis 2011 publizierten, es sei kein Fall belegt, in dem jemals ein Grenzsoldat militärgerichtlich verurteilt wurde, weil er die Schusswaffe zur Verhinderung einer Flucht nicht einsetzte, wurden mir im Rahmen der Studie drei konkrete solcher Urteile bekannt. Hinzu kamen etwa zehn weitere Urteile wegen des Vorwurfs der Beihilfe zur Flucht beziehungsweise des Unterlassens einer Anzeige trotz Mitwisserschaft. Angesichts der Zufälligkeit dieser Funde ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
Gab es Selbstmorde aufgrund der harten Haftbedingungen?
Polzin: Es gab glücklicherweise keine vollendeten Suizide unter den Insassen, sehr wohl aber etliche Selbstmordversuche. Die Reaktion des Personals war durch den Versuch des Herunterspielens solcher Vorkommnisse geprägt. Andererseits führte die Sorge vor eventuellen Selbstmorden auch zu einer entsprechenden Instruierung sowohl der sogenannten Funktionshäftlinge als auch der inoffiziellen Mitarbeiter von Staatssicherheit und Kriminalpolizei.
Konnte die DDR ihr sogenanntes Erziehungsziel mit der Inhaftierung der Soldaten erreichen?
Polzin: Ja und nein. Kurzfristig wird in vielen Fällen eine Verhaltensänderung des Einzelnen erreicht worden sein. Auch der Abschreckungseffekt gegenüber den anderen Soldaten dürfte groß gewesen sein. Doch überzeugte DDR-Bürger hat die Schwedt-Erfahrung aus den Betroffenen nicht gemacht. Im Gegenteil: Viele berichten, dass ihnen in Schwedt die Augen für das wahre Gesicht des Sozialismus geöffnet wurden, zum Teil auch schon durch die vorgelagerten Erfahrungen in Stasi-Untersuchungshaft. Einige wenige waren in ihrer Renitenz gegen das DDR-Regime so stark, dass sie als „Unzuverlässigkeitsfaktor“ betrachtet und nach der Haft aus der Armee entlassen wurden. Auch verließen etliche ehemalige Schwedt-Insassen die DDR in Richtung Bundesrepublik.
Gehorsam und Disziplin im Gefängnis lernen
Am Rande der brandenburgischen Stadt Schwedt gab es von 1968 bis 1990 die berüchtigte Militärstrafvollzugseinrichtung für männliche wehrpflichtige DDR-Bürger, deren Kapazität zuletzt bis zu knapp 600 Insassen betrug. Dieser NVA-Knast war Teil des militärischen Repressionsapparates zur Durchsetzung von Disziplin, Gehorsam und Konformität in den Streitkräften der DDR. An Informationen drang damals wenig nach draußen. Zigtausende NVA-Soldaten hatten Angst davor, dort zu landen.
Heutzutage ist das Gelände im Besitz mehrerer Eigentümer. Zahlreiche Gebäude wurden inzwischen abgerissen, einige befinden sich in städtischer Hand.
In der Gedenkstätte „Roter Ochse“ in Halle ist zurzeit eine Sonderausstellung zu sehen. Titel: „NVA-Soldaten hinter Gittern. Der Armeeknast Schwedt als Ort der Repression“.
(mz)