In die totale Freiheit entlassen In die totale Freiheit entlassen: Interview mit Andreas Dresen zum Film "Als wir träumten"

Berlin - Die MZ sprach mit dem Regisseur Andreas Dresen über seinen neuen Film. „Als wir träumten“ hat am Montag bei der Berlinale Premiere.
Herr Dresen, warum haben Sie gerade diesen Roman über fünf Jungs und die Nachwendezeit in einer ostdeutschen Stadt verfilmt?
Dresen: Ich mochte die Jungs! Trotz aller Abgründe, die sie in sich tragen, gibt es bei ihnen immer auch Momente von Fürsorge – füreinander, aber selbst für die alte Oma, der sie Kohlen hochtragen, obwohl sie die beklauen. Und ich mochte den Ton, in dem Clemens Meyer von ihnen erzählt. Außerdem fühlt man sich ja immer zu den Dingen hingezogen, die man selbst nicht so hat.
Das Buch trat mir so energisch, dunkel, anarchisch, böse entgegen,
auf der anderen Seite aber auch warm und zärtlich. Clemens Meyers Roman hat eine schier unbezwingliche, scheinbar chaotische Struktur, die aber völlig adäquat der Zeit ist, in der die Geschichte spielt. Ein höchst ungewöhnliches deutsches Buch, das mich teils an US-amerikanische Literatur erinnerte und auch an Genre-Kino.
Sie erwähnten die komplizierte Struktur des Romans.Wie entschieden Sie, was Eingang in den Film findet und was nicht?
Dresen: Wenn man gute Literatur in einen Film übersetzen will, muss man teilweise radikale Entscheidungen treffen. Dabei hat Clemens Meyer uns voll vertraut. Er meinte, wir sollen mal machen. Er
hat gern unsere Fragen beantwortet, ließ aber sonst los. Das war sehr großzügig. Clemens ist ein großer Filmfan; er weiß, dass Literatur und Film unterschiedliche Herangehensweisen erfordern. Sein Buch ist nicht chronologisch erzählt. Und der Film hat auch keine Kausaldramaturgie. Aber wir erzählen im Film viel geordneter, wir teilen in Kapitel ein – auch wenn wir das Erratische bewahren wollten. Wir wollten die Wildheit und das Verrückte im Film haben.
Die eigentliche Wende findet im Film gar nicht statt. Warum nicht?
Dresen: Die Bilder der Wende, auch die der Montagsdemos in Leipzig, sind vollkommen abgenutzt, allein schon durch das Fernsehen. Als ich mich in den Roman von Clemens verliebt habe, war die Mikrowellen-Episode darin mein absoluter Favorit. Ich fand es schön, die Zeitenwende anhand eines einzigen kleinen Gegenstands zu erzählen: Plötzlich tauchten damals in allen ostdeutschen Haushalten neue Dinge auf. Die Kinder finden Pornohefte im Schlafzimmer der Eltern. Und in der Küche steht diese Mikrowelle, da legen sie dann ein rohes Ei hinein, um das Gerät auszuprobieren. All das genügt, um die Ära zu charakterisieren. Da brauche ich nicht Tausende Statisten, die „Wir sind das Volk“ rufen, um die Demonstrationen nachzustellen. Um Gottes willen!
Mir war die Ansprache des DDR-Schuldirektors wichtiger, der den Kindern anlässlich der Montagsdemos einreden will: Da sind verbrecherische Elemente, die auf der Brücke rumspringen, die ja einstürzen kann – davor müssen wir das Volk beschützen. Das erzählt aus einer anderen Perspektive von den Demos. Der Film umkreist das Thema also, zeigt aber nichts davon auf gewohnte Weise. Die Wende findet indirekt statt.
Haben Sie im Film entsprechend auch auf Symbole des im Osten einziehenden Westens verzichtet? Etwa die Schilder westdeutscher Banken oder Supermärkte?
Dresen: Es gibt einige wenige Insignien des Westens, am Ende etwa das blaue Leuchten des Gebrauchtwagen-Handels – die wollten wir wie ein Ufo in dieser Umbruchzeit landen lassen. Die Protagonisten agieren indes überwiegend am Stadtrand und in Ruinen – es ist ein wilder Tanz auf den Rudimenten des alten Systems. Und entsprechend sehen die Settings im Film aus. Wir wollten auf keinen Fall ins schicke Zentrum von Leipzig, dahin geht der Roman ja auch nicht. Er spielt an der Peripherie. Den Jungs im Buch steht die Welt plötzlich weit offen. Sie meinen: Jetzt testen wir mal die Grenzen aus. Sie sind ja auf dem Weg zum Erwachsenwerden. „Als wir träumten“ ist ein Film über den Abschied von der Kindheit, er handelt eben nicht nur vom Übergang zweier Systeme. Das ist zwar die Folie, vor der alles geschieht, und ein Katalysator. Aber es geht darum, wie Liebe und Verrat Einzug halten in das Leben von Kindern, die in einer sehr schwierigen Zeit zu Erwachsenen werden und sich nach und nach arrangieren müssen mit den Regeln der neuen Gesellschaft.
Es geht im Buch zudem darum, was aus den jungen Pionieren der späten 1980er wurde. Davon handelt auch Burhan Qurbanis Film „Wir sind jung. Wir sind stark“. Ist das Thema gerade virulent?
Dresen: Ich habe den Film von Burhan noch nicht gesehen, mag den Regisseur aber sehr. Ist bestimmt ein guter Film. In „Als wir träumten“ sehen wir die Jungs auch als Kinder, denn es war uns wichtig, woher sie kommen. Die DDR hatte ja ein teilweise ideologisiertes System der Fürsorge aufgebaut, das nach der Wende plötzlich wegfiel. Je nach Geschmack könnte einem das auf die Nerven gehen oder gefallen.
Die staatliche Fürsorge hat sich ja vielfältig artikuliert, etwa in schulischen Arbeitsgemeinschaften oder in Jugendclubs. Ich selbst
mochte etwa die mit der Pionierorganisation verbundene Ideologie nicht, fand es aber unbedingt erstrebenswert, ein rotes Halstuch zu haben – und zwar nur, weil das die Älteren tragen durften. Die jüngeren hatten ja nur ein blaues Halstuch. Später hat man den Augenblick herbeigesehnt, da man das Blauhemd der FDJ bekam – um darin beim Appell so mufflig lässig „Freundschaft“ maulen zu können wie die Großen. Die Parolen der Pionierorganisation klingen in den späten 1980ern längst hohl.
Die Jungs im Roman und im Film werden aus dem Reich der Fürsorge in ein Reich totaler Freiheit gestoßen, wo alles möglich scheint und wo sie sich mit dem Recht der Jugend das nehmen, was sie kriegen können. Die Generation der Eltern und Lehrer, die die Kinder bislang in die Grenzen gewiesen hatte, fehlt. Die Erwachsenen hatten andere Probleme: Arbeitslosigkeit, die Entwertung der Biografien durch den Westen – der Autoritätenverlust war ja flächendeckend auf dem Gebiet der einstigen DDR. Und die jungen Leute dachten: Geil, jetzt dürfen wir alles. Schon sprossen die illegalen Clubs nur so aus dem Boden. Man tanzte auf einem Seil und übersah schnell, dass darunter ein Abgrund klaffte, dass man tief fallen könnte.
Im Roman fühlen sich die Jungs viel stärker zur Generation der Großeltern hingezogen als zu der der Eltern.
Dresen: Ja, denn das ist die Generation, die schon einmal so einen harten Zeitenumbruch erlebt hatte, nach 1945. Es ist die Generation unseres Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase, er ist Jahrgang 1931. Die beiden Generationen der Alten
und der Jungen flankieren gewissermaßen die Gesellschaft, während die Generation in der Mitte ratlos ist. Dabei müssten doch die Eltern eigentlich alles in die Hand nehmen. Das ist spannend. Unser Film ist die Arbeit von vier Generationen geworden: Wolfgang Kohlhaase ist 83 Jahre alt, ich bin Anfang 50, Clemens Meyer wurde 1977 geboren, und die Darsteller sind Anfang 20.
Der Schriftsteller Clemens Meyer hat in Ihrem Film einen Gastauftritt als Polizist, der Dani, Rico, Paul, Pitbull und Mark nach einer Nacht in der Zelle wieder aus der Haft entlässt. Wie kam es dazu?
Dresen: Ich wollte Clemens unbedingt besetzen. Eigentlich sollte er als Polizist Dani bei dessen Mutter abliefern. An diesem Drehtag konnte Clemens aber nicht. Dann haben wir diese Variante gefunden, die noch schöner ist,weil er sozusagen im Film seine Figuren ins Leben entlässt. Clemens sagt: Auf Wiedersehen, Freunde! Und die Jungs antworten: Nee, lass mal. Das ist doch ein schönes Bild: Die Figuren gehen weg von dem, der sie erfunden hat, hinaus ins Leben.
War die Arbeit mit dieser anarchischen Romanvorlage für Sie auch eine Art Befreiungsschlag?
Dresen: In gewisser Weise ja. Ich konnte Sachen machen, die ich in noch keinem Film so ausprobieren
durfte: Prügeleien, Boxkämpfe, Verfolgungsjagden, wilde Tanzszenen. Ich konnte mit Elementen des Genre-Kinos spielen, musste für Tempo sorgen. Und dazwischen ganz zarte Szenen. Das war eine extrem fordernde, wunderbare Arbeit. Am Ende war ich ungeheuer froh, als Clemens den Film dann sah und ihn mochte. Da fiel mir ein Stein vom Herzen.