Fragen und Antworten Warum Fachleute Deutschland nicht auf Klimakurs sehen
Deutschland sei beim Klimaziel für das Jahr 2030 auf Kurs, hatte Minister Habeck im März stolz verkündet. Wichtige Berater der Bundesregierung widersprechen nun.
Berlin - Deutschland wird bis 2030 wohl mehr klimaschädliche Treibhausgase in die Atmosphäre pusten als gesetzlich festgeschrieben - und damit sein Klimaziel verfehlen. Zu diesem Ergebnis kommt der Expertenrat für Klimafragen, ein wissenschaftliches Beratergremium der Bundesregierung, in einem in Berlin vorgestellten Sondergutachten. Damit zeigen sich die Fachleute deutlich pessimistischer als Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne), der noch im März erklärt hatte, Deutschland sei auf Kurs.
Hat Habeck getrickst?
Einen Widerspruch bei den Daten selbst gibt es nicht. Habeck hat die Vorausberechnungen des Umweltbundesamts (UBA) für die kommenden Jahre nur rosiger bewertet als der Expertenrat. Und in der Tat macht Deutschland Fortschritte, unter anderem beim Ausbau der erneuerbaren Energien, den Habeck sich selbst auf die Fahnen schreibt.
Die Mengen, die Deutschland laut Klimaschutzgesetz zwischen 2021 und 2030 an Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen ausstoßen dürfte, würden nach jüngsten Berechnungen um 47 Millionen Tonnen unterschritten - nach vorher 1100 Millionen Tonnen erwarteter Überschreitung. Vor allem auf diese Zahl stützte sich Habecks Stolz. Der Vorsitzende des Expertenrats, Hans-Martin Henning, betont hingegen, wie mickrig dieser Puffer ist: „Das ist deutlich weniger als ein Prozent des Gesamtbudgets für diesen Zeitraum.“
Warum ist der Expertenrat pessimistischer?
Das Gremium hat Berechnungen zur Wahrscheinlichkeit angestellt und geht auf dieser Grundlage nicht davon aus, dass es klappt mit dem Klimaziel für 2030. Dafür gebe es mehrere Gründe. So seien zum Beispiel die vorausberechneten Emissionen in den Bereichen Energie, Gebäude und Verkehr unterschätzt worden und mit Einschränkungen auch jene in der Industrie. Außerdem erinnern die Fachleute daran, dass das UBA nur Daten bis zum vergangenen Oktober einbezog. Doch seither wurde als Folge des Karlsruher Urteils zum Bundeshaushalt unter anderem der wichtige Energiewendetopf Klima- und Transformationsfonds zusammengestrichen. Außerdem sei man damals noch von höheren Preisen für klimaschädliches Gas ausgegangen und von teureren Zertifikaten im europäischen Emissionshandel, so die Fachleute. Im Emissionshandel können Unternehmen mit Rechten zum Ausstoß von Treibhausgasen (Zertifikaten) handeln.
Ein Sprecher des Wirtschafts- und Klimaschutzministeriums argumentierte seinerseits, der Expertenrat habe einige aktuelle Entwicklungen nicht mehr berücksichtigt. Er nannte unter anderem das Paket zum Ausbau der Solarenergie oder Pläne, die dem klimafreundlicheren Energieträger Wasserstoff Schub verleihen sollen. Henning zeigte sich unbeeindruckt: Das Solarpaket habe der Expertenrat durchaus berücksichtigt. „Neben dem Solarpaket 1 sehen wir keine relevanten gesetzgeberischen Maßnahmen, die seit März beschlossen worden sind und unsere Grundeinschätzung verändern würden, dass das Klimaziel 2030 voraussichtlich nicht erreicht wird“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
Was ist mit der Zeit nach 2030?
Da müsste es nach den im Klimaschutzgesetz festgelegten Zielen eigentlich so richtig losgehen: Bis 2040 sollen es mindestens 88 Prozent sein und 2045 soll Deutschland klimaneutral sein - also nicht mehr Treibhausgase ausstoßen als auch wieder gebunden werden können. Damit sieht es jedoch schlecht aus. So geht der Expertenrat davon aus, dass das CO2-Budget zwischen 2031 und 2040 um etwa zehn Prozent überschritten wird. Mit der angestrebten Treibhausgasneutralität werde es wohl nicht einmal bis 2050 etwas, sagte die stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats Brigitte Knopf.
Was ändert diese Einschätzung des Expertenrats?
Rein formal gar nichts. Nach dem reformierten Klimaschutzgesetz muss die Bundesregierung zwar handeln, wenn eine Zielverfehlung droht - aber eben erst, wenn dies zwei Jahre in Folge festgestellt wird. Diese erste Einschätzung verpflichte die Bundesregierung „nicht zu weiterer klimapolitischer Aktivität“, sagt auch der Rat.
Allerdings legen die Fachleute den Finger in die Wunde. Umweltorganisationen und andere Experten sehen sich bestätigt. Die Bundesregierung habe sich die Lage im Frühjahr schöngerechnet, meint Greenpeace. „Mit Blick auf die anstehenden Haushaltsverhandlungen bedeutet dies, dass die Ampel-Koalition Zukunftsinvestitionen im Klimabereich dringend absichern muss“, sagte der Direktor der Denkfabrik Agora Energiewende Deutschland, Simon Müller. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Lisa Badum betonte: „Unwetter töten im schlimmsten Fall, das haben wir dieses Wochenende gesehen.“ Man wisse, dass Überschwemmungen, Dürren, Ernteausfälle mit steigender Erderhitzung zunähmen. „Deswegen brauchen wir angesichts der aktuellen Hochwassernotlage die Bereitschaft, über eine Ausnahme von der Schuldenbremse zu sprechen.“
Was sollte jetzt nach Ansicht des Expertenrats passieren?
Besser nicht abwarten bis zum zweiten Warnschuss, meint der Expertenrat. Insbesondere bei den Bereichen Gebäude und Verkehr, wo Deutschland auch mit Blick auf die europäischen Klimaziele nicht auf Kurs ist, müsse etwas passieren. Außerdem gebe es Verbesserungsbedarf bei der Methodik für die Klimaziel-Vorausberechnungen.
Ein Sprecher des FDP-geführten Bundesverkehrsministeriums betonte: „Wir sind ja schon dran an dem Thema Klimaschutz im Verkehr.“ Das sei aber nicht so einfach, da viele Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor unterwegs seien. Er und eine Sprecherin des SPD-geführten Bauministeriums sagten, nach der Reform des Klimaschutzgesetzes komme es nun stärker darauf an, dass Deutschland seine Klimaziele insgesamt schaffe und nicht mehr nur jeder einzelne Bereich. Ein Sprecher des Klimaschutzministeriums betonte hingegen, auch mit der Reform bleibe jedes Ministerium in Verantwortung.
Man sehe bei einer Zielverfehlung „Klärungsbedarf, wer in der Bundesregierung die Federführung innehat“, sagte Henning vom Expertenrat. Der Rat empfiehlt der Bundesregierung, Details nun rasch in Verordnungen festzulegen.