Soziales Krankenversicherung ins Grundgesetz?
Wer weiß, wer genau über die milliardenschweren Sozialbeiträge und ihre Verwendung entscheidet? Es ist nicht der Staat allein. Diese Besonderheit könnte bald Verfassungsrang in Deutschland bekommen.
Berlin - Soll die Krankenversicherung ins Grundgesetz? Das fordert ein langjähriger Experte für das deutsche Sozialsystem, der Bundesbeauftragte für die Sozialwahlen, Peter Weiß. Auch die Arbeitslosen-, die Renten- und die Unfallversicherung will Weiß in der Verfassung verankern - genauer gesagt: die gesamte Sozialversicherung mit ihrer Selbstverwaltung. Zugleich fordert Weiß mehr Demokratie - und zwar durch mehr Mitsprache für die Versicherten bei Leistungen und Beitragsgeld.
„Einfach so weiterzumachen, wie bisher - das geht nicht“, sagte Weiß der Deutschen Presse-Agentur. Sonst habe die Sozialversicherung in ihrer heutigen Form wohl kaum eine Zukunft, heißt es auch in einem nun veröffentlichten Abschlussbericht zu den Sozialwahlen 2023. Die Idee: In der Verfassung festzuschreiben, dass die Sozialversicherung „unter maßgeblicher Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu organisieren ist“, wie Weiß sagt.
22 Millionen konnten online wählen
Das mag für viele weit von der eigenen Lebenswirklichkeit erscheinen. Kein Wunder: Viele Menschen in Deutschland kennen die Sozialwahlen nicht - damit geht einher, dass sie „die soziale Selbstverwaltung nicht zur Kenntnis nehmen beziehungsweise nicht wertschätzen“, wie Weiß und seine Stellvertreterin Doris Barnett in Empfehlungen an Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) schreiben.
Bei den jüngsten Sozialwahlen waren rund 52 Millionen Menschen 2023 wahlberechtigt. Nur rund jede und jeder Fünfte machte sich ans Ankreuzen. Im Vergleich zu den vorherigen Sozialwahlen 2017 sank die Beteiligung um fast acht Prozentpunkte. Bei den Sozialwahlen werden die Mitglieder der Verwaltungsräte von gesetzlichen Krankenkassen sowie der Vertreterversammlungen der Unfall- und Rentenversicherungen gewählt. Erstmals war bei großen Krankenkassen - insgesamt bei 22 Millionen Wahlberechtigten - eine Online-Stimmabgabe möglich. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 2021 lag die Wahlbeteiligung bei knapp 77 Prozent.
Was unterscheiden Sozial- und Bundestagswahl?
Wo ist der maßgebliche Hauptunterschied? „Die Wahlbeteiligung ist immer dann groß“, stellt der Sozialwahl-Abschlussbericht nüchtern fest, „wenn es "um etwas geht'" wenn Weichenstellungen anstehen (...), wenn der Wahlkampf geeignet ist, Emotionen auszulösen“.
Das ist bei der Sozialversicherung nicht wirklich der Fall. Dabei haben die Krankenkassen für quasi jede und jeden Einzelnen existenzielle Bedeutung - und für die Gesellschaft insgesamt als „Garant des sozialen Friedens“, so der Abschlussbericht. Und es geht um unvorstellbare Summen. So wurden 2023 in Deutschland rund 1250 Milliarden Euro für soziale Leistungen ausgegeben, davon mehr als 840 Milliarden aus Sozialbeiträgen von Beschäftigten und Arbeitgebern.
Es geht um Geld - und was man dafür bekommt
Richtige Wahlkämpfe gibt es bei Sozialwahlen trotzdem nicht. Die dort gewählten Gremien haben ziemlich wenig zu sagen. Der Bericht stellt fest, „dass der Bundesgesetzgeber die Angelegenheiten der Mitglieder der Träger der Sozialversicherung bis in nahezu jedes Detail durch Bundesgesetz geregelt hat“. Für Mitsprache bleibe kaum Spielraum.
Hätten die Angelegenheiten der Sozialversicherung das Zeug für „interessante Wahlkämpfe“? Weiß und die Sozialwahl-Verantwortlichen meinen: ja. Ihr Bericht benennt, worum es gehen könnte: um Geld und was man dafür bekommt. „Habe ich die Wahl zwischen geringeren Leistungen, Selbstbehalten, begrenzter Auswahl an Leistungserbringern usw. bei gleichzeitiger Verringerung meiner Beitragslast?“ Doch über all dies hat in aller Regel schon der Gesetzgeber entschieden.
„Wollen nicht mehr Staat, sondern weniger“
Dabei kennen sich die Kandidatinnen und Kandidaten bei den Sozialwahlen in der Regel in der Materie aus. Sie kommen meist von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen. Hinter der Sozialwahl steckt der Gedanke, dass diejenigen, die einzahlen, auch mitbestimmen sollen. Die gewählten Gremien beschließen unter anderem die Haushalte ihrer Versicherungen.
Selbstverwaltung in den bestehenden Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts einschlafen zu lassen, „wäre töricht“, sagt Weiß, der als Arbeitsmarktexperte seiner Fraktion selbst weitreichende Sozialgesetze mitverhandelt hatte. „Wir wollen ja nicht mehr Staat, sondern weniger - und mehr Bürgerbeteiligung.“
Soll es gemacht werden wie in Weimar?
Für eine Verankerung in der Verfassung gibt es übrigens ein Beispiel: die Weimarer Reichsverfassung. Artikel 161 lautete: „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein Versicherungswesen unter maßgeblicher Mitwirkung der Versicherten.“