Innenminister unter Schmidt Gerhart Baum, das linksliberale Gewissen der FDP
Gerhart Baum war der große alte Mann des sozialliberalen Flügels der FDP. Vier Jahre lang war er Bundesinnenminister, dann kam der Karriereknick. Das konnte ihn aber nicht entmutigen.
![Gerhart Baum (Mitte) mit seinen Weggefährten Burkhard Hirsch und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. (Archivbild)](https://bmg-images.forward-publishing.io/2025/02/15/3b834a18-9e3d-4e48-a2da-c4a728cc5477.jpeg?w=1024&auto=format)
Köln - Neben der Toilette hingen sie alle: Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Burkhard Hirsch. Die Spitzenpolitiker der Bonner Politik, die Gerhart Baum durch sein politisches Leben begleitet hatten, sie hatten nicht etwa einen Platz neben dem Kamin oder gegenüber der Bücherwand seiner Altbauwohnung in der Kölner Südstadt. Nein, sie waren ins Badezimmer verbannt.
Dort hing allerdings auch er selbst, vorzugsweise in Karikaturen. Gerhart Baum war von der Sorte Politiker, die nicht in erster Linie das eigene Fortkommen antreibt, sondern unverbrüchliche Überzeugungen. Dass er an ihnen festhielt, führte 1982 beim Bruch der sozialliberalen Koalition zum plötzlichen Karriereknick. Jetzt ist Baum im Alter von 92 Jahren in Köln gestorben.
Bis fast zuletzt hat er jeden Tag gearbeitet. Mit 89 Jahren vermittelte er noch eine seit langem vergeblich angestrebte Einigung zwischen den Hinterbliebenen der israelischen Opfer des Münchner Olympia-Attentats von 1972 und der Bundesregierung. Daneben vertrat er russische Zwangsarbeiter und Angehörige und Opfer eines Flugschau-Unglücks auf dem US-Militärflugplatz in Ramstein. Auf einer Parkbank sitzen oder den Hund ausführen - das sei nichts für ihn, sagte er kurz vor seinem 90. Geburtstag der Deutschen Presse-Agentur.
Wenn man mit ihm sprach, machte er immer den Eindruck, in Eile zu sein. „Fangen wir an!“, sagte er dann. Für Small Talk war kein Platz, das war verplemperte Zeit.
Baum war einer der Letzten, die die gesamte bundesrepublikanische Geschichte bewusst erlebt hatten. Geboren wurde er in den letzten Monaten der Weimarer Republik, am 28. Oktober 1932 in Dresden. Er wuchs wohlbehütet in einem bildungsbürgerlichen Haushalt auf. Sein Vater war Rechtsanwalt, seine Mutter eine gebürtige Russin aus Moskau, die 1917 vor der Oktoberrevolution geflohen war.
„Und am nächsten Tag ist alles weg.“
Die Bombardierung Dresdens in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 erlebte Baum als Augenzeuge mit. Die Bilder gingen ihm nie aus dem Kopf: „Ich lege meine Schulsachen für den nächsten Tag zurecht, die Hefte mit Hausaufgaben, ich verstaue mein Faschingskostüm. Dann gehe ich ins Bett. Und am nächsten Tag ist alles weg. Die Schulsachen, das Kostüm, das Haus, die Freunde, die Schule. Stattdessen Berge von Leichen.“ 77 Jahre später holten ihn diese Bilder mit großer Wucht wieder ein, als er im Fernsehen den Krieg in der Ukraine verfolgte.
Während sein Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft starb, floh seine Mutter mit Gerhart und seinen beiden Geschwistern nach Bayern. Dort ruderte er eine Zeit lang jeden Tag über den Tegernsee, um zur Schule zu kommen. Eine Familienbeziehung war der Grund dafür, dass sie schließlich in Köln landeten, damals eine „graue, dunkle, zerstörte Stadt“. Er sollte sie gleichwohl nie mehr verlassen. Baum studierte Jura und trat in die FDP ein. 1972 zog er über die Landesliste Nordrhein-Westfalen in den Bundestag ein, sechs Jahre später wurde er Bundesinnenminister in der sozialliberalen Koalition von Helmut Schmidt (SPD).
Dieser habe ihn zwar immer respektiert, aber auch gesagt: „Der Baum ist mir zu liberal.“ Von Rechten wurde er als RAF-Versteher geschmäht, weil er die linksextremistischen Terroristen nicht nur verfolgen, sondern auch verstehen wollte. „Ich habe Ursachenforschung betrieben“, sagte er 2022 der Deutschen Presse-Agentur. „Ich bin auf Spurensuche gegangen: Was ist in der Gesellschaft passiert, dass es zu dieser Mordserie gekommen ist?“ Dafür habe Schmidt kein Verständnis gehabt. Auch beim Thema Menschenrechte sei der SPD-Kanzler ein „Muffel“ gewesen. „Ich habe mich mit ihm oft darüber gestritten. Er hat immer gesagt: "Was interessiert die Chinesen, was wir von ihren Menschenrechten halten?"“
Verfassungsbeschwerden gegen staatliche Überwachung
Als FDP-Chef Genscher die Partei 1982 in eine 16-jährige Partnerschaft mit der CDU Helmut Kohls führte, ging Baum diesen Weg nicht mit. Zusammen mit seinem Freund Burkhard Hirsch (1930-2020) vertrat er fortan den linksliberalen Parteiflügel, der allerdings nur noch ein versprengtes Häuflein darstellte. Was er seiner Partei im Rückblick mit am meisten ankreidete: „Die FDP hat das grüne Thema 1982 aufgegeben, obwohl sie die Grundlagen geschaffen hat.“ Für Umweltpolitik war er als Bundesinnenminister mit zuständig gewesen.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag arbeitete Baum wieder als Anwalt. Daneben führte er - oft zusammen mit Burkhard Hirsch und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger - Verfassungsbeschwerden gegen staatliche Überwachung: gegen den Großen Lauschangriff, die Vorratsdatenspeicherung oder das Luftsicherheitsgesetz von Rot-Grün zum Abschuss von entführten Passagiermaschinen. Immer wieder meldete er sich auch zu Wort, wenn er den Eindruck hatte, dass die FDP zu sehr in neoliberale Gewässer abdriftete. Manche sahen in ihm einen Querulanten, andere das linksliberale Gewissen der FDP.
Am Ende seines Lebens musste sich der überzeugte Demokrat und Menschenrechtsanwalt eingestehen, dass westliche Werte unter Druck standen. „Weltweit schwächeln die Demokratien“, räumte er ein. Das war ihn für ihn aber kein Grund zur Resignation, sondern Ansporn zum Weiterkämpfen. Was Deutschland betraf, wandte er sich gegen Schwarzseherei: „Wir haben immer noch eine stabile Demokratie und keine gespaltene Gesellschaft. Reden wir uns das nicht ein. Wir haben Gefährdungen der Freiheit, vor allem durch Rechtsextremismus, das nehme ich sehr ernst. Aber immer noch haben wir eine sehr starke, geglückte Demokratie.“