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Messerangriff bei Stadtfest Die bangen Stunden von Solingen

Aus Freude wurde Angst, aus entspanntem Feiern Wut. Ein Messerangriff ist zu einem Wendepunkt für die Einwohner von Solingen geworden. Und nicht nur dort stellt sich die Frage: Was kommt jetzt?

Von Jana Glose, Jonas-Erik Schmidt und Bettina Grönewald, dpa Aktualisiert: 25.08.2024, 18:07
Vor der Kirche in der Nähe des Tatorts ist ein Blumenmeer entstanden.
Vor der Kirche in der Nähe des Tatorts ist ein Blumenmeer entstanden. Thomas Banneyer/dpa

Solingen - Nach atemlosen Stunden in der ganzen Stadt kämpfen vor einer Kirche in Solingen kleine Kerzenflammen darum, nicht auszugehen. Es ist plötzlich sehr kühl geworden, es geht ein kalter Wind, und das im August. Immer wieder kommen Menschen und zünden eine neue Kerze an. Und auf einem großen Schild steht „Warum?“.

Am Freitagabend sind ein paar Schritte entfernt drei Menschen bei einem Messerangriff auf dem Solinger Stadtfest, dem „Festival der Vielfalt“, getötet worden. Was in den Stunden danach geschah - und zum Teil auch: nicht geschah - hat Solingen mit seinen rund 160.000 Einwohnern verändert. Erst am späten Samstagabend wird ein Mann festgenommen, der der Täter sein soll. Ein 26 Jahre alter Syrer. Er soll blutverschmiert gewesen sein.

Inzwischen sitzt der Mann in Untersuchungshaft - ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof hat Haftbefehl erlassen, unter anderem wegen Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und wegen Mordes.

Neben dem Tatort, der noch immer abgesperrt ist, steht am Sonntagmorgen Philipp Müller und organisiert ein Fest, das es nicht mehr gibt. Müller hat die 650-Jahr-Feier, die Solingen begehen wollte, mit auf die Beine gestellt. Am Freitagabend wurde er angerufen. Er sah Menschen, die reanimiert wurden. Er sah Tote.

Erst Fest, dann Tatort

„Ich habe gestern die Bilder den ganzen Tag im Kopf gehabt“, sagt er. Und, da sei er ehrlich: Er habe dann auch etwas Alkohol getrunken. Nun - so „idiotisch“ das klinge - widme er sich der Organisation. Auf der Bühne, vor der die Attacke geschah, stehen immer noch Instrumente. Er würde sie gerne der Band zurückgeben. Selbst das Bühnenlicht ist noch an. „Wir haben angeboten, dass wir es ausmachen. Aber die Polizei sagt: Es ist ein Tatort“, sagt Müller. Spurensicherung - er versteht das. Er sagt aber auch: „Das ist alles dystopisch.“

Seit Freitagabend erlebt Solingen einen Alptraum. Nach dem Messerangriff verschwindet der Täter und wird erst einmal nicht gefunden. Eine Videoüberwachung der Polizei gab es nicht. Der Mann bleibt zunächst ein Phantom, was die Lage sehr angespannt und diffus macht. 

Noch in der Tatnacht reist NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) an. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert eine harte Strafe für den Täter. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kommt am Samstag, zusammen mit NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und - abermals - Reul. Sie nennt den Anschlag „widerwärtig“ und sagt: „Wir lassen uns in solchen Zeiten nicht spalten, sondern stehen zusammen und lassen es auch nicht zu, dass ein solch furchtbarer Anschlag die Gesellschaft spaltet.“

Die Solinger fragten sich: Kann ich noch vor die Tür gehen?

Die Bevölkerung hat zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht nur Sorge vor einer Spaltung, sondern vor einer konkreten Gefahr. Es ist relativ wenig, was die Behörden der verunsicherten Bevölkerung sagen können. Gibt es ein gesichertes, veröffentlichbares Foto von dem Angreifer? Nein. Was war das Motiv? Schwierig zu sagen. In den sozialen Netzwerken überschlagen sich da bereits die Kommentare. 

Weitere Städte sagen ihre Feste ab. In Solingen herrscht Anspannung. Viele Menschen fragen sich schlicht: Kann ich noch vor die Tür gehen? Ist der Täter noch in der Stadt? Oder längst über alle Berge, wofür auch einiges sprechen könnte. Denn die Polizei findet ihn nicht.

Von Polizeiaktionen im ganzen Land wird berichtet. Am Samstagabend stürmt die Polizei eine Flüchtlingsunterkunft in Solingen. Aber erst später, in der Nacht, gibt es ein leichtes Aufatmen. Ein Mann stellt sich selbst und gibt an, der Täter zu sein. Er wird nicht in Berlin, Hamburg oder im Ausland aufgegriffen - sondern nur wenige Hundert Meter von Tatort entfernt. Wieder mitten in Solingen. 

Wie der „Spiegel“ berichtet, kam der Mann Ende 2022 nach Deutschland und stellte einen Antrag auf Asyl. Der Deutschen Presse-Agentur werden diese Informationen bestätigt. Seine Abschiebung scheiterte demnach im vergangenen Jahr. Die Terrormiliz IS reklamiert die Tat für sich.

Angst macht sich breit

In der Stadt bauen sich Angst und Wut auf. „Solingen ist momentan sehr oft in den Schlagzeilen“, sagt eine Anwohnerin resignierend. Im März waren vier Menschen in einer Dachgeschosswohnung gestorben bei einem Feuer, das ein ehemaliger Mieter gelegt haben soll. Im Juni ließ ein Mann vor einem Solinger Geschäft eine Flasche mit einer Substanz fallen lassen, wodurch es zu einer Explosion kam. Im kollektiven Gedächtnis ist ein Brandanschlag von 1993, bei dem fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen von Rechtsextremisten ermordet wurden.

All das sollte bei der 650-Jahr-Feier eigentlich keine Rolle spielen. Solingen bemüht sich um eine positive Außendarstellung. Man nennt sich - ausgerechnet - „Die Klingenstadt Deutschlands“, weil es eine Tradition in der Herstellung von Klingen, Messern und Scheren gibt, im Mittelalter vor allem von Degen und Schwertern. In der Stadt steht auch das „Deutsche Klingenmuseum“. Wie damit umgehen? 

Aber nicht nur Solingen wird das jüngste Geschehen irgendwie verarbeiten müssen, auch deutschlandweit befeuert es politische Diskussionen. Messerangriffe haben zugenommen, Bundesinnenministerin Faeser kündigte erst kürzlich ein verschärftes Waffenrecht an, die FDP lehnte die Vorschläge bislang jedoch ab. Und in einer Woche stehen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen an. Migration ist bereits ein Dauer-Thema.

„Nun ist alles anders“

Am Sonntagmorgen sollte es in Solingen eigentlich einen Festgottesdienst zum 650. Stadtgeburtstag geben. Daraus wird kurzfristig ein Trauergottesdienst, bei dem sich viele Menschen drängen. „Nun ist alles anders“, fasst Pfarrerin Friederike Höroldt zusammen. „Wir spüren in diesen Tagen unsere Hilflosigkeit und unsere Ohnmacht.“

Mit Ohnmacht will sich Fest-Mitorganisator Philipp Müller allerdings nicht abgeben. Auf die Frage, ob es im kommenden Jahr angesichts der Vorgeschichte wieder eine Feier geben könne, sagt er: „Ja, natürlich! Auch da gilt: Nach dem Fest ist vor dem Fest. Eisenhart bin ich da.“ Er werde nun mit allen Beteiligten reden. „Dann schauen wir, dass wir im kommenden August hier wieder feiern.“