Chemieunfall Chemieunfall: «Seveso wurde zum Wendepunkt»

Rom/dpa. - «Bosco delle Querce», Eichenwald,heißt der Park. Klingt geradezu idyllisch. «Viele Menschen könnensich gar nicht mehr vorstellen, was sich damals hier abspielte»,meint ein Mitarbeiter der italienischen UmweltorganisationLegambiente. «Vergessen ist das Unglück trotzdem nicht.»
Seveso ist zum Synonym geworden - für die Angst vor der Chemie,für die Gefahren des Fortschritts. «Doch es wurde auch zum Auslöserfür den Kampf um mehr Sicherheit», meint Massimiliano Fratter vonLegambiente, der «Seveso-Experte» der Organisation. «Seveso wurde zumSchlüsselereignis in der Industriegeschichte.»
Es geschah an einem Samstag. 10. Juli 1976, 12.37 Uhr. In derChemiefabrik ICMESA sind nur wenige Arbeiter, da platzt einSicherheitsventil. Aus dem Reaktor in der Produktionshalle Bentweicht eine Gaswolke mit hochgiftigem Dioxin. «Es roch nachMedizin», meinte ein Augenzeuge später. Erst nach einer Stunde wirddas Leck entdeckt. Schon am nächsten Morgen treten bei mehrerenKindern in Seveso erste Symptome von Hauterkrankungen auf.
Von Beginn an wurde geschlampt, verharmlost. Bäume verlorenplötzlich ihre Blätter, Hühner, Kaninchen und Katzen verendeten. Dochdie verängstigte Bevölkerung musste sich zunächst mit dem Ratschlagabfinden, sie solle kein Gemüse aus dem Garten esse. Erst zehn Tagenach dem Unfall wurde publik, dass die Gaswolke Tetrachlordibenzo-p-Dioxin enthalten hatte - einer der gefährlichsten Gifte für denMenschen. Wie viel genau, weiß man bis heute nicht: Schätzungenschwanken zwischen 300 Gramm und 34 Kilo.
Erst 16 Tage nach dem Unglück wurden die ersten Häuser evakuiert.Die am stärksten betroffene Zone A um das Fabrikgelände wird späterdem Erdboden gleichgemacht. In Seveso gab es keine Todesfälle zubeklagen, die nachweislich mit dem Unfall in Verbindung stehen. Die193 an Chlorakne erkrankten Menschen und die 447 weiteren mitHautverätzungen gelten nach 20 Jahren als geheilt - auch wenn Narbengeblieben sind. Später zahlte der Schweizer Chemiekonzern Hoffmann-LaRoche, zu dem die Fabrik ICMESA gehörte, rund 300 Millionen Franken(heute etwa 197 Millionen Euro) Entschädigung an die Opfer und fürdie Beseitigung der Schäden.
«Seveso wurde zum Wendepunkt in Sachen Sicherheit in Europa», sagtFratter. Der Unfall rüttelte auf, die Politiker setzten sich inBewegung. 1982 verabschiedete die EU die so genannte Seveso-I-Richtlinie. Da gab es ein neues Moment: Industriebetriebe, die mitbestimmten Mengen an Gefahrstoffen umgehen, müssen Risikensystematisch analysieren und abstellen. Danach seien vieleSchwachstellen beseitigt worden, meinen Experten. «Bezeichnenderweisewurden diese Bestimmungen in Italien erst 1988 umgesetzt», erläutertFratter.
Weitere Verschärfungen auf EU-Ebene gab es nach dem Unglück imindischen Bhopal, wo 1984 über 2000 Menschen starben. «Damals inSeveso gab es auch schon die technischen Möglichkeiten, einen solchenUnfall zu verhindern. Diese wurden aber aus Kostengründen nichtgenutzt», meint Fratter. «Noch heute sind die Sicherheitsbestimmungennicht streng genug. Damit sich so etwas wie Seveso nicht wiederholt -dafür arbeiten wir.»