Analyse Analyse: Am Ende klare Mehrheit für Liberalisierung
Berlin/dpa. - Noch bevor im Parlament das Abstimmungsprozedere über die vier verschiedenen Anträge eröffnet worden war, gab sich der Hauptinitiator für eine Stichtagsverschiebung im strengen deutschen Stammzellenimportgesetz zuversichtlich. Und am Ende konnten Röspel und seine Mit-Autorin Ilse Aigner (CSU) mit 366 Ja-Voten der 580 anwesenden Abgeordneten sogar noch gut drei Dutzend Stimmen mehr als erwartet für ihren Vorstoß zur Liberalisierung verzeichnen.
Die Vertreter der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die auf der Bundestagstribüne die weitgehend sachliche Debatte verfolgt hatten, zeigten sich nach der Abstimmung «froh und dankbar» über das deutliche Votum. Deutsche Wissenschaftler dürfen jetzt auch mit rund 500 jüngeren menschlichen embryonalen Stammzellenlinien forschen, die vor dem neuen Stichtag 1. Mai 2007 in ausländischen Labors gewonnen worden sind. Bisher standen ihnen nur etwa 20 ältere Linien zur Verfügung, die vor dem bisherigen Stichtag 1. Januar 2002 entwickelt worden waren. Sie gelten inzwischen in der Forschung nach mehrmaligem Einfrieren und Auftauen als verunreinigt.
Natürlich wäre der deutschen Forschung der völlige Fortfall des Stichtages lieber gewesen - so wie dies die 126 Abgeordneten um Ulrike Flach (FDP), Rolf Stöckel (SPD) und Katherina Reiche (CDU) angestrebt hatten. Aber für DFG-Präsident Matthias Kleiner ist auch der Kompromiss ein wichtiger Schritt, die Stammzellenforscher in der Bundesrepublik nicht von der internationalen Entwicklung abzukoppeln.
Die Kirchen sehen dagegen in dem Bundestagsvotum ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Der Kölner Kardinal Joachim Meisner sprach von einem Angriff auf «die Grundlage des christlichen Menschenbildes». Der Münchner Erzbischof Reinhard Marx versicherte, die katholische Kirche werde auch weiter daran festhalten, dass der menschliche Embryo «ein Jemand, keine Sache ist».
Bei dem Streit geht es letztlich um die alte Frage, wann menschliches Leben beginnt oder ab welchem Zeitpunkt seiner Entwicklung «der Mensch ein Mensch ist» - wie es Volker Beck von den Grünen formulierte. Beck, Hubert Hüppe (CDU) oder andere prominente Gegner einer Liberalisierung fürchten dabei eine «Verzweckung» des werdenden menschlichen Lebens für die Forschung und sehen zugleich einen Angriff auf die Menschenwürde - auch wenn die eingesetzten Stammzellenlinien in der Regel aus Embryos gewonnen wurden, die mit Hilfe künstlicher Befruchtung erzeugt worden sind.
Für die Befürworter einer Liberalisierung hingegen greift der Schutz der Menschenwürde erst mit dem Einsatz des Embryos in den Mutterleib - also dann, wenn er tatsächlich entwicklungsfähig wird. 400 000 überzählige Embryonen seien bei künstlichen Befruchtungen allein in den USA in den vergangenen fünf Jahren entstanden, gab die FDP-Politikerin Flach zu bedenken. Viele davon seien für die Forschung gespendet worden. Die anderen wurden vernichtet.
Auch in Deutschland, wo es anders als in den USA keine so ausgeprägte künstliche Befruchtungspraxis für kinderlose Paare gibt, werden Schätzungen zufolge Jahr für Jahr rund 200 überzählige Embryos nach längerer Einlagerung in Kühlhäusern ohne weiteres Aufsehen in den medizinischen Labors entsorgt.
Die ehemalige SPD-Abgeordnete Margot von Renesse, die als «Mutter» des Stammzellen-Kompromisses von 2002 im Bundestag gilt, überraschte am Freitag mit ihrer Forderung in der «Süddeutschen Zeitung», diese überzähligen Embryonen künftig auch in der Bundesrepublik für die Wissenschaft zu nutzen - «so wie auch Tote für die anatomische Forschung gebraucht werden». Renesse: «Der absolute Schutz muss dem Embryo gelten, der eine Chance hat, sich zu entwickeln. Dem künftigen Kind künftiger Eltern, nicht der eingefrorenen Zelle.»
Doch eine Stammzellen-Produktion künftig auch in Deutschland? So weit wollten selbst die Befürworter des ersatzlosen Fortfalls der Stichtagsregelung im Bundestag nicht gehen. Deutsche Forscher werden auch künftig weiter den Umweg über das Ausland wählen müssen und das Stammzellenmaterial aus den großen Labors in den USA, in Singapur oder in Tel Aviv importieren müssen.