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26. April 2002 Amoklauf in Erfurt: Minuten der Angst am Gutenberg-Gymnasium

26.04.2017, 06:27
Zwei junge Mädchen weinen am 28.04.2002 vor den mit Blumen und Kerzen übersäten Treppenstufen am Eingangsportal des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt.
Zwei junge Mädchen weinen am 28.04.2002 vor den mit Blumen und Kerzen übersäten Treppenstufen am Eingangsportal des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt. dpa

Erfurt - Der Ablauf des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasium am 26. April 2002 ist von den Ermittlern detailgenau rekonstruiert worden.

Am Tatmorgen verabschiedet sich der spätere Amokschütze von seinen Eltern mit der Lüge, er gehe zur Abiturprüfung.

Etwa 10.45 Uhr: Der 19-Jährige betritt seine ehemalige Schule und erkundigt sich beim Hausmeister nach der Direktorin. Nach der Auskunft, sie sei nicht zu sprechen, geht er in die Toilette im Erdgeschoss. Dort zieht er sich seine schwarze Vermummung über und nimmt eine Pistole. Außerdem hat er eine Pumpgun dabei, die er wegen eines Defekts nicht benutzen wird. In der Toilette findet die Polizei später mehrere hundert Schuss Munition.

Etwa 10.58 Uhr: Er geht zum Sekretariat, wo die stellvertretende Schulleiterin und eine Sekretärin seine ersten Opfer sind. In den nächsten knapp zehn Minuten tötet er auf seinem Weg durch die Schule elf Lehrer. An einem Klassenzimmer feuert er durch eine geschlossene Tür und trifft ein Mädchen und einen Jungen, die später beide an ihren Verletzungen sterben.

11.04 Uhr: Per Handy erreicht der erste Notruf die Polizei. Eine Minute später meldet der Hausmeister, in der Schule werde geschossen.

11.08 Uhr: Der erste Streifenwagen trifft ein. Polizisten sehen, wie der 19-Jährige auf dem Schulhof schießt. Ein Polizist gibt einen Schuss ab, der in einer Sandkiste stecken bleibt. Kurz darauf schießt der Täter aus einem Treppenaufgang auf einen 41 Jahre alten Beamten und verletzt diesen tödlich.

Auf seinem weiteren Weg durch die Schule begegnet er zwei Lehrlingen, die Bodenbelag verlegen. Einer von ihnen hatte das Geschehen für eine Abiturienten-Inszenierung gehalten. Auf ihre Frage, ob dies ein übler Scherz sei, antwortet er, er sei von der Schule verwiesen worden. Kurz darauf trifft er auf einen Lehrer, der ihn nach einem Wortwechsel in einem leeren Raum einschließt.

11.17 Uhr: Polizisten hören ein „schussähnliches Geräusch“ aus dem Raum. Die Obduktion ergibt, dass sich der Täter zwischen 10.58 Uhr und 11.30 Uhr erschossen hat.

11.30 Uhr: Eine Notärztin und ein Sanitäter gehen mit Schutzwesten ausgerüstet in die Schule und finden drei Leichen.

11.35 Uhr: Spezialeinsatzkräfte treffen ein.

12.03 Uhr: Die schwer bewaffneten Polizisten dringen in das Gebäude ein, suchen es Zimmer für Zimmer ab. Es gab zahlreiche Aussagen, dass ein zweiter Täter mit einem Gewehr unterwegs sein soll.

13.00 Uhr: Spezialkräfte öffnen die Tür zum Raum, in dem sich die Leiche des Schützen befindet. Der Hausmeister identifiziert ihn später.

14.37 Uhr: Die Spezialisten schließen die Durchsuchung der Schule ab, ohne einen zweiten Täter zu finden.

15.34: Die letzten Schüler und Lehrer werden von der Spezialeinheit an den Toten vorbei aus der Schule gebracht.

Die Konsequenzen nach dem Amoklauf in Erfurt

Der Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium blieb nicht ohne Konsequenzen. Das deutsche Waffenrecht wurde unter anderem nach dem Vorfall verschärft. Und auch auf anderen Gebieten wurden Konsequenzen gezogen.

Amoklauf Erfurt: MPU für angehende Schützen unter 25 Jahren

2002 wird eine verpflichtende medizinisch-psychologische Untersuchung für angehende Schützen unter 25 Jahren eingeführt. Die Altersgrenze für Kauf und Besitz von Schusswaffen bei Sportschützen steigt von 18 auf 21, bei Jägern von 16 auf 18 Jahre. Schießsportordnungen von Verbänden, die auch ein sogenanntes Bedürfnis für bestimmte Waffen begründen können, müssen behördlich genehmigt werden.

Nach Winnenden werden unter anderem die Überprüfungsmöglichkeiten für das sogenannte waffenrechtliche Bedürfnis verschärft. Schießen mit großkalibrigen Waffen wird erst ab 18 Jahren erlaubt. Zudem werden die Möglichkeiten zur – auch verdachtsunabhängigen - Kontrolle der Waffenaufbewahrung erweitert. Grundsätzlich dürfen die Kontrolleure eine Wohnung aber nur mit Zustimmung des Waffenbesitzers betreten.

Nach Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium: Polizeitaktik hat sich geändert

Nach dem Einsatz am Gutenberg-Gymnasium wird die Polizeitaktik bei solchen Fällen geändert. Nunmehr sollen auch Streifenpolizisten bei Amokläufen sofort in das Gebäude zum Täter vordringen. In Erfurt hatte das Spezialeinsatzkommando nach Berichten über einen zweiten Täter das Gebäude mehrere Stunden lang Raum für Raum durchsucht, in dieser Zeit konnten Rettungskräfte nicht zu allen Opfern vordringen.

Zahl der Schulpsychologen hat sich nach Amoklauf in Erfurt erhöht

In Thüringen werden nach dem Amoklauf von Erfurt befristet für ein Jahr 16 Schulpsychologen eingestellt. In den Jahren 2011 und 2012 wird die Zahl der Schulpsychologen in dem Bundesland auf insgesamt 35 Stellen ausgebaut. Laut Bundesverband Deutscher Psychologen erreicht allerdings auch heute kein einziges Bundesland den aus seiner Sicht anzustrebenden Versorgungsschlüssel von einem Psychologen für 1500 Schüler.

Änderungen im Schulgesetz von Thüringen

In Thüringen wird die „besondere Leistungsfeststellung“ am Ende der 10. Klasse des Gymnasiums eingeführt, damit Gymnasiasten ohne Abitur einen dem Realschulabschluss gleichgestellten Schulabschluss haben und auch die Fachhochschulreife erwerben können. Der Amokläufer von Erfurt hatte wegen seines Verweises vom Gutenberg-Gymnasium kurz vor dem Abitur keinen Schulabschluss.

In das Thüringer Schulgesetz wurde auch aufgenommen, dass Eltern volljähriger Schüler über schulische Angelegenheiten, vor allem Leistungsabfall und Ordnungsmaßnahmen, zu informieren sind. Die Eltern des Amokschützen von Erfurt wussten nichts vom Schulverweis, da ihr Sohn ihnen den regelmäßigen Schulbesuch vorspielte. (dpa)