23. und 24. Juni 23. und 24. Juni: Ernüchterung statt Euphorie nach dem EU-Gipfel
Brüssel/dpa. - Der oft und viel beschworene europäische Geist spielte in den 36 Stunden zwischen Donnerstagabend und dem frühen Samstagmorgen eher eine Nebenrolle. Doch nach dem Scheitern einer europäischen Verfassung 2005 in Frankreich und den Niederlanden ging es weniger um einen großen Wurf. Stattdessen mussten neue und längst überfällige Spielregeln her, um die Europäische Union reaktionsschneller und stärker angesichts vielfältiger globaler Herausforderungen zu machen. Aber das ist auch weitgehend gelungen.
Für Bundeskanzlerin Angela Merkel war die Ausgangslage wahrlich schwierig. Die Verhandlungsführerin hatte es mit den unberechenbaren Kaczynski-Zwillingen aus Polen und dem quasi entmachteten Premier Tony Blair aus Großbritannien zu tun - drei Kontrahenten, denen es zu allererst nicht um Europa ging.
Lech Kaczynski (Präsident und in Brüssel am Verhandlungstisch) und Jaroslaw Kaczynski (Regierungschef und in Warschau über Telefon zugeschaltet) spielten ihre Karten im Poker um mehr Gewicht und Einfluss so unerbittlich aus, dass es erfahrenen Diplomaten - bei aller Kritik an deren nationaler Position - Respekt abnötigte. Sympathie erfuhren die Kaczynskis aus den Delegationen anderer mitteleuropäischer «Neu-EU-Mitglieder». Die Polen zeigten den «Alt-EU-Mitgliedern» selbstbewusst und letztlich erfolgreich die Grenzen auf.
Dass Polen bis 2017 ein - gemessen an der Bevölkerung - Schwergewicht bleibt, wird aber nicht verhindern, dass die EU sich mit neuen Verträgen zum Guten verändern wird. Auch die zahlreichen Ausnahmen, die der in diesen Tagen aus dem Amt scheidende Blair durchdrückte, sind in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen. Die Grundrechte-Charta, die Europas Bürgern Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte garantiert, wird auf der Insel nicht gelten. Und Blairs Nachfolger Gordon Brown muss sich nicht an Brüsseler Beschlüsse in der Innen- und Rechtspolitik halten. Dass der EU-Außenminister doch nicht EU-Außenminister heißen darf, weil die Atommacht Großbritannien mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat das als Bedrohung ihrer souveränen Außenpolitik empfindet, ändert letztlich auch nichts an dem schmucklosen Erfolg des Gipfels.
Denn die 27 Staats- und Regierungschefs haben den Weg dafür geebnet, dass die EU beispielsweise im Kampf gegen Terroristen und Kriminelle schneller reagieren kann. Auch die Herausforderungen, die den «vergreisenden» Gesellschaften in Europa in den kommenden Jahrzehnten bevorstehen, lassen sich von 2009 an, wenn die Vertragsänderungen in Kraft treten sollen, besser meistern.
Der EU fehlt noch immer ein schlüssiges und umfassendes Konzept in der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Mehrheitsentscheidungen - statt Einstimmigkeit - werden von 2009 an auch in der Innen- und Rechtpolitik möglich. Blockierer und Bremser, die gemeinsame Regeln auf dem Altar nationaler Interessen opfern, werden es schwerer haben.
Und noch ein wichtiges Ergebnis steckt in den Vereinbarungen: Die EU bleibt erweiterungsfähig. Die Institutionen - EU-Kommission, Europaparlament und Ministerrat - unterziehen sich Reformen, um später auch die Länder des Westbalkans aufzunehmen und dennoch handlungsfähig zu bleiben. Die Tür zum Wohlstands-Club bleibt offen. Der Prozess, den über Jahrzehnte wegen des Kalten Krieges gespaltenen Kontinent politisch zu einen und wirtschaftlich zu stärken, geht weiter. Pünktlich zum 50. Geburtstag der 1957 gegründeten Gemeinschaft nimmt die Europäische Union wieder Fahrt auf.