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  7. Familiengericht & Sorgerecht: Wenn das System bei häuslicher Gewalt versagt

Mutter kämpft vor Gericht Trotz Vorwürfen wegen häuslicher Gewalt: Sechsjähriger muss beim Vater leben

Eine junge Mutter kämpft vor Gericht um ihren sechsjährigen Sohn. Trotz Vorwürfen wegen häuslicher Gewalt lebt das Kind beim Vater. Ein Fall, der die Schattenseiten unseres Rechtsstaates aufzeigt.

Von Jessica Reitzig Aktualisiert: 26.03.2024, 12:48
Wenn sich Eltern um das Sorgerecht streiten, wird es hässlich. Vor allem Kinder leiden darunter. Nicht jedes Stopp-Zeichen ist so offensichtlich.
Wenn sich Eltern um das Sorgerecht streiten, wird es hässlich. Vor allem Kinder leiden darunter. Nicht jedes Stopp-Zeichen ist so offensichtlich. (Symbolfoto: Imago | Roland Mühlanger)

Halle (Saale). - Was passiert, wenn sich die häusliche Gewaltspirale auch vor einem Familiengericht immer weiterdreht, weiß Julia K. „Als ich meinen Sohn mittags abholen wollte, fing mich vor der Schule ein Gerichtsvollzieher ab. Der erklärte mir, Paul sei jetzt weg.“

Tränen steigen in die Augen der 26-Jährigen, während sie berichtet. „Traumatisch“ sei das gewesen, was ihr und ihrem sechsjährigen Sohn Paul widerfahren sei.

Berlin und Familienrecht: Ein Kampf um Sorgerecht

Jede vierte Frau wird im Laufe ihres Lebens von ihrem Partner misshandelt. Viele dieser Frauen haben Kinder, die den Missbrauch in der Familie hautnah miterleben müssen.

Auch noch nach einer Trennung können die Täter in vielen Fällen weiter Gewalt ausüben, da Familiengerichte die Opfer nicht ausreichend vor Nachtrennungsgewalt schützen.

Häusliche Gewalt und die Rolle des Familiengerichts

Das berichtet eine aktuelle Analyse des Deutschen Instituts für Menschenrechte, und attestiert der Politik dringenden Handlungsbedarf: „Obwohl die Problemlagen seit Jahren bekannt sind, ist bisher wenig geschehen, um einen rechtssicheren Rahmen für Gewaltbetroffene zu schaffen“, so fassen die Experten das Dilemma zusammen.

Häusliche Gewalt: Der Vater soll geschlagen haben

Alles beginnt im Jahr 2016, da ist Julia K. schwanger. Sie lebt mit ihrem Freund in Berlin. Der will das Kind nicht, versucht sie zu einer Abtreibung zu überreden, berichtet sie rückblickend: „Als ich mich dafür entschied, das Baby zu bekommen, trennte er sich von mir.“

Einige Monate später kommen die beiden wieder zusammen, wollen es doch als Familie versuchen und ziehen aufs Land nach Mecklenburg-Vorpommern.

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Elternschaft unter Druck: Trennung und ihre Folgen

Der kleine Paul erblickt das Licht dieser Welt, da ist Julia K. gerade 20 Jahre alt. Ihr Freund ist von dem Baby zunehmend gestresst, will es weder halten noch wickeln. So beschreibt Julia K. die Situation: „Er hat mich regelmäßig angeschrien, wurde aggressiv, nachdem ich nicht mit ihm schlafen wollte.“

Als sich die Gewalt nicht nur gegen sie selbst, sondern auch gegen den kleinen Paul richtet, hält Julia K. es nicht mehr aus. „Ich bin zum Frauenhaus, hatte dort ein Beratungsgespräch, und mir wurde ein Platz angeboten.“

Jessica Reitzig, Jahrgang 1984, ist Journalistin und Mit-Autorin des Buchs „Im Zweifel gegen das Kind“, in dem sie in acht Erlebnisberichten von Eltern eine schockierende Bestandsaufnahme dessen liefert, was Eltern und ihren Kindern im Konfliktfall vor Gericht passieren kann. Die Recherche für das Buch dauerte rund drei Jahre.
Jessica Reitzig, Jahrgang 1984, ist Journalistin und Mit-Autorin des Buchs „Im Zweifel gegen das Kind“, in dem sie in acht Erlebnisberichten von Eltern eine schockierende Bestandsaufnahme dessen liefert, was Eltern und ihren Kindern im Konfliktfall vor Gericht passieren kann. Die Recherche für das Buch dauerte rund drei Jahre.
(Foto: Verlag)

Die Herausforderungen alleinerziehender Eltern

Nach der Trennung zieht Julia K. mit Paul zunächst nach Greifswald, versucht dort ihr Studium zu beenden. Doch sie merkt schnell, dass das ohne familiäre Unterstützung eine große Herausforderung ist. Daraufhin zieht sie zurück zu ihren Eltern nach Berlin, beginnt ein neues Studium, organisiert ihren Alltag zusammen mit Paul.

In dieser Zeit zeigt der Vater etwas mehr Interesse an seinem Kind, holt ihn gelegentlich übers Wochenende ab. Als die Studentin schließlich das Angebot bekommt, ein dreimonatiges Auslandspraktikum in Spanien zu absolvieren, hat Pauls Vater zunächst Einwände, das Kind mitgehen zu lassen, berichtet sie. Er stimmt aber schließlich zu und möchte seinen Sohn im Gegenzug sechs Monate am Stück bei sich aufnehmen, das ergibt sich aus den Gerichtsunterlagen.

Sorgerechtsstreit: Die Entscheidung des Familiengerichts

So kommt es, dass Paul erst eine Kita bei seiner Mutter in Berlin, dann einen Kindergarten in Spanien, und danach eine Betreuungseinrichtung in Mecklenburg-Vorpommern bei seinem Vater besucht. Über eine Elternvereinbarung stellt Julia K. sicher, dass Paul im Anschluss wieder bei ihr in Berlin leben und hier auch im Sommer 2023 eingeschult werden kann.

Doch dann reicht der Vater einen Eilantrag beim Familiengericht ein, um das Sorgerecht auf ihn übertragen zu lassen. Er will Paul bei sich behalten, ihn in Mecklenburg-Vorpommern einschulen. Und setzt sich mit seinem Vorhaben innerhalb weniger Wochen durch.

Eine Eilsache trifft nur dann zu, wenn Gefahr in Verzug ist.

Kathrin Renner-Grützmacher

Die Rolle des Jugendamts und die Suche nach Gerechtigkeit

Er trägt bei Gericht vor, Paul sei „verhaltensauffällig“ und die „ständigen Wechsel“ im Alltag bei seiner Mutter würden dem Kind schaden. Überprüft werden diese Behauptungen vom Gericht nicht. Auch den Vorwürfen zur häuslichen Gewalt, von denen Julia K. dem Jugendamt berichtet, geht niemand nach.

Stattdessen überträgt das Gericht dem Vater am 14. August in einem vorläufigen Beschluss das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Schulsorge. Daraufhin stellt der Vater nur zwei Wochen später einen Antrag auf Herausgabe des Kindes. Dem gibt das Gericht statt. Am 7. September scheitert der Einspruch von Julia K. vor dem Oberlandesgericht.

Familienrecht in der Praxis: Ein kritischer Blick

Wenige Tage danach rückt der Gerichtsvollzieher an, und holt Paul aus seiner Berliner Grundschule, wo er in der Zwischenzeit bereits eingeschult worden ist. Warum der Vater so handelt, dazu möchte er sich auch auf Nachfrage nicht äußern. Julia K. darf ihren Sohn nur noch alle 14 Tage am Wochenende sehen und muss dafür jedes Mal 300 Kilometer mit Bus und Bahn zurücklegen.

Fortbildung für Richter: Ein Schlüssel zur Gerechtigkeit

Carsten Löbbert, Sprecher der Fachgruppe Familienrecht der Neuen Richtervereinigung, kennt Fälle wie diesen. Seine Vereinigung fordert schon länger, die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf das Umgangsrecht genauer zu betrachten.

Zudem gebe es „ein unterschiedliches Maß an Kompetenz in Bezug auf die Einschätzung von häuslicher Gewalt an unseren Familiengerichten“. Dementsprechend fordert er: „Was wir dringend brauchen, ist eine wirksame Fortbildungspflicht für Familienrichter und ein strukturiertes Angebot dazu. Richter müssen die Ressourcen bekommen, sich weiterzubilden.“

Die emotionale und finanzielle Belastung von Sorgerechtsstreitigkeiten

Bei Durchsicht der Akten zum Fall Julia K. ergeben sich mindestens Fragen dazu, was die Kompetenz der zuständigen Richterin in Bezug auf den Schutz von Gewaltopfern angeht.

So heißt es im Beschluss des Amtsgerichts aus August 2023: „Der Vater geht einer festen Berufstätigkeit nach, Veränderungen sind nicht geplant. Bei der Mutter hingegen, die sich noch im Bachelor-Studium befindet, hat das Kind sich auf vielfache Veränderungen und Wechsel im Alltag einzustellen, die vermutlich Belastungsfaktoren für ihn darstellen“.

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Hinzu käme, so heißt es weiter im Beschluss, dass die Mutter gern reisen und, im Zuge ihres Studiums, weitere Auslandsaufenthalte in Betracht ziehen würde, gegebenenfalls wieder unter Mitnahme des Kindes, wie bereits beim dreimonatigen Aufenthalt in Spanien.

Auch die Richter am Oberlandesgericht sehen das später ähnlich, und fokussieren sich in ihrer Begründung ebenfalls auf die Tatsache, dass Julia K. Studentin ist und ein Praktikum in Spanien absolviert hat.

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Die Stimme des Kindes: Oft überhört im Rechtssystem

Bei Julia K. entsteht der Eindruck, dass es hier mehr um Vorurteile geht und weniger um die richtige Entscheidung für ihr Kind. Denn keines der Gerichte scheint zu interessieren, was der inzwischen sechsjährige Paul eigentlich möchte.

Dabei ist Pauls Wille dem Gerichtsprotokoll zur Kindesanhörung klar zu entnehmen: „Er erklärte sodann unaufgefordert, dass er bei Mama in die Schule gehen wolle, weil es dort viel toller sei. Wenn das Gericht sagen würde, er müsse zu Papa, würde er das nicht machen.“

Für das Wohl des Kindes: Die Notwendigkeit einer fairen Verhandlung

Kathrin Renner-Grützmacher vertritt die Rechte von Kindern, sie ist Verfahrensbeiständin und damit die Anwältin des Kindes vor einem Familiengericht. Mehr als 250 Kinder hat Kathrin Renner-Grützmacher in den vergangenen zehn Jahren vor Gericht vertreten.

Zu diesem Fall sagt sie: „Wenn man eine so weitreichende Entscheidung wie eine Umplatzierung vornimmt, sollte man das in einer Eilsache eigentlich nur dann tun, wenn Gefahr im Verzug ist. Diese Gefahr kann ich hier nicht erkennen. Die Entscheidung, das Kind von der Mutter wegzunehmen und zum Vater zu geben, hat weitreichende Folgen für das Kind.“

Der lange Weg zur Gerechtigkeit: Hoffnung trotz Rückschlägen

Julia K. hat eine Menge verloren. Nicht nur ihr Sohn Paul ist weg. Auch rund 5.000 Euro hat die Studentin bisher in den Streit gesteckt. Und der Glauben an den Rechtsstaat, der ist ihr ebenfalls abhandengekommen. Denn selbst ihre Anträge auf Verfahrenskostenhilfe hat das Gericht abgelehnt.

„Paul wirkt sehr traurig und verschlossen. Und er fragt immer wieder, wann er endlich zu mir zurückkommen kann.“ Julia K. hofft nun, dass sich das Gericht in dem noch offenen Hauptverfahren doch noch für Pauls Wohl einsetzt, und ihm erlaubt wird, wieder bei ihr und seinen Freunden in Berlin zu leben.